Wohnsinn und win-win: wie wird heute Stadt gemacht?

SUPERPAPER

Interview: Julia Hinderink

In München herrscht der ganz normale Wohnsinn. Er wird bejammert, ­angeklagt und hingenommen. Er wird verschärft durch die Berichte um die Lage der Flüchtlinge und satirisch geschmückt durch ­Aktionen der Goldgrund Immobilien. Ende Januar findet im Salon ­Luitpo­ld ein Podiumsgespräch unter dem ­Motto „München: dicht aber leer?“ statt, das die aktuelle Wohnungspolitik und kreative Ansätze als Alternativen dazu thematisiert. Erörtert wird dies von ­Christine Bleks, ­Andres Lepik, Günther Friesinger und ­Elisabeth Merk. Drei der Podiumsgäste habe ich vorab interviewt und ihre Positionen zu dem Thema erfahren.

Christine Bleks hat 2012 mit ihrem Projekt Tausche Bildung für Wohnen
(tbfw-marxloh.org) in Duisburg begonnen und eine „win win win Situation“ für den Stadtteil Marxloh und deren Bewohner geschaffen. Tausche Bildung für Wohnen e.V. stellt kostenlosen Wohnraum für junge Menschen zur Verfügung, die sich im Gegenzug verpflichten als Bildungspaten mit benachteiligten Kindern des Stadtteils zu arbeiten.

Julia Hinderink Wie kam es zu Eurer Idee? Warum habt Ihr Euch Duisburg-Marxloh als Ort gewählt?

Christine Bleks In den neunziger Jahren wurden während der Stahlkrise 20.000 Menschen entlassen. Viele der Arbeitslosen haben sich damals anderweitig beworben und sind aus Marxloh weggezogen. Die Gastarbeiter, die auf Grund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse diesen Weg nicht gehen konnten, blieben im Ortsteil. Die entstehenden Leerstände und die bildungsarme Monokultur haben Marxloh nicht gut getan. Mein Geschäftspartner Mustafa Tazeoglu ist dort geboren und aufgewachsen und hat durch den Einsatz seiner Eltern und unterstützender Bekannte eine akademische Laufbahn einschlagen können. Die Erfahrung, dass sich Türen in eine größere Welt als die des eigenen Stadtteils oder der eigenen Familie öffnen können, wenn man Vorbilder hat, war eine treibende Kraft und beschreibt den Kern unseres Projektes.

JH Hat die „Street Credibility“ von Mustafa einen Einfluss auf den Erfolg des Projektes?

CB Ja sehr. Wir sind wie ein linkes und ein rechtes Bein, die zusammen gehen können. Das Projekt bewegt sich über zwei Kulturkreise. Ich habe den „preußischen“ Part des Innenministers übernommen und Mustafa ist Außenminister. Ohne seine Bindung an die Community und die Glaubwürdigkeit durch die eigene Geschichte wäre der Zugang schwieriger. Die Form des„Tauschgeschäftes“ ist in der muslimischen Tradition verankert und wird als natürlicher Vorgang akzeptiert.

JH Die Idee ist so simpel wie genial und trotzdem dauert die Umsetzung in die Realität lange. Wie steinig war der Weg?

CB Wir haben 2011 das Konzept geschrieben und all unsere Mittel investiert. Nach neun Monaten standen wir vor der privaten Insolvenz. Als wir 2012 von der Vodafone Stiftung nach München eingeladen wurden, um „Tausche Bildung für Wohnen“ vorzustellen, mussten wir uns das Geld für die Zugkarten leihen. Die 40.000 Euro Preisgeld von „Act for Impact“, die wir dann gewonnen haben, waren der Raketentreibstoff.
Ein in einer so frühen Phase so stark gefördertes Projekt war einzigartig in Deutschland und hat eine große Aufmerksamkeit gebracht. Dennoch haben wir bis Mitte 2014 gekämpft, um die Anschubfinanzierung sicherzustellen.

JH Was war Eure Motivation während der Durststrecke?

CB Wir sind wie zwei Autisten immer weitergegangen. Die Unterstützung der Presse hat geholfen, dass viele Menschen auf uns zukamen. Von Sachspenden über Dienstleistungen haben wir viele Angebote bekommen. Ein Agenturbesitzer hat für sämtliches Pressematerial die Grafik und Herstellungskosten übernommen. Ein anderer hat auf seiner privaten Geburtstagsfeier Geld für uns gesammelt. Der Chef der Vodafone Stiftung ist so begeistert von unserem Projekt, dass er bei uns im Kuratorium sitzt.
Die ideelle Unterstützung von Seiten der Behörden und religiösen Institutionen war sehr hilfreich.

JH Die zwei Wohnung, in denen nun die ersten Bildungspaten eingezogen sind, wurden von der Stadt gestellt?

CB Nein, die haben wir von einem privaten Besitzer übernommen. Der türkische Eigentümer hat uns beide Wohnungen sehr billig verkauft.

JH Was sind die Auswahlkriterien für die Bewerber?
CB Die Bewerber müssen ein Motivationsschreiben an uns schicken und werden zum Gespräch eingeladen. Wir suchen Persönlichkeiten aus, die offen sind, den Prozess mitzubegleiten und sich auf die damit verbundenen „Unsicherheiten“ einzulassen.

JH Und nach welchen Kriterien werden die Kinder ausgesucht?

CB Wir arbeiten eng mit den lokalen Schulen zusammen, die jeweils 18 Kinder vorschlagen können. Die Mädchen und Jungen, um die wir uns kümmern, gehen in die 1. bis 6. Klasse und sind keine „Härtefälle“, sondern gerade an einem Punkt, den man vielleicht so beschreiben kann: Wenn man ihnen jetzt nicht unter die Arme greift, dann könnten sie abrutschen.

JH Wie offen sind die Eltern dieser Kinder für das Projekt?
CB Die Eltern kennen Mustafa gut und vertrauen uns sehr. Tatsächlich ist die Erwartungshaltung eher zu hoch. Acht Stunden „Kinderreparatur“ pro Tag ist natürlich nicht möglich.

JH Wie könnte man das Projekt in anderen Städten umsetzen?

CB Wir stellen uns vor, dass unsere Bildungspaten, die jetzt in dem Projekt Erfahrungen sammeln, unsere Nachfolger werden und das Konzept in andere Städte tragen. Die Bundeszentrale für politische Bildung fördert unser Projekt und versucht eine Auswahl und Qualifizierung für vergleichbare Situationen zu erstellen.

JH Der Druck, der in Duisburg Marxloh durch Leerstand und mangelnde Bildung entstanden ist, hat zu einer kreativen Lösung geführt. In München gibt es auch Druck, allerdings andersgeartet. Was könnte hier ein sinnvolles Wohnprojekt sein?

CB Hier in Duisburg ist Wüste. Aber in der Wüste ist auch viel Platz. Man kann Dinge ausprobieren, da es wenig Konkurrenz gibt. Die Grundfrage ist: Was gibt es vor Ort? Wovon ist zu viel oder eben zu wenig vorhanden? Ein Modell in München könnte vielleicht sein, umsonst zu wohnen, wenn man sich pro Tag ein paar Stunden um Senioren kümmert.
Letztendlich sind all diese Projekte davon getragen, dass Engagement zur Währung wird.

Soziales Engagement steht auch im Mittelpunkt der Projektarbeiten meines zweiten Interviewpartners: Günter Friesinger ist Philosoph, Künstler, Kurator und Produzent in Wien und hat gerade mit der IG Kultur Wien das Buch „Wer geht leer aus – ein Plädoyer für eine andere Leerstandspolitik“ in seinem Verlag monochrom herausgebracht. Das Buch ist als open access Publikation via www.wergehtleeraus.igkulturwien.net zum Download verfügbar.

JH Die Münchner kämpfen um bezahlbaren Wohnraum, die Mieten steigen rasant an, diejenigen, die sich das nicht mehr leisten können, werden in die Peripherie gedrängt. Zusätzlich verstärkt sich der Druck durch eine große Anzahl von Flüchtlingen, die in der Stadt unterkommen sollen. Da wird Leerstand ein rotes Tuch, zur sozialen Ohrfeige, auf die Bewohner der Stadt reagieren. Leerstand und der Umgang damit wird ein Thema des Salon Luitpold hier in München sein, an dem Sie teilnehmen werden. Wie sieht die Situation in Wien aus?

Günter Friesinger Ich bin im Vorstand der IG Kultur Wien, die eine Interessensvertretung für freie und autonome Kulturschaffende ist. Die Hausbesetzung hat in Wien eine lange Tradition. Vom Amerling Haus über das WUK oder die Arena hat seit Jahrzehnten jede Generation in Wien Häuser besetzt. Diejenigen, die auf reguläre Art und Weise an Raum kommen möchten, tun sich schwer und sind Repressalien ausgesetzt, was dann wiederum die IG Kultur auf den Plan bringt, weil wir dann aktiv werden und helfen können.
Die Not der Kulturschaffenden, einen Raum zum Wohnen und Arbeiten zu haben, wurde von uns zum Programm gemacht. 2008 haben wir eine dreiteilige Studie zum Thema Leerstand und Zwischennutzung erstellt, aus der dann auch das Buch „Wer geht leer aus“ entstanden ist.

JH Was hat es mit dem „Leerstandsmelder“ auf sich?

GF Der Leerstandsmelder ist als erstes in Hamburg erschienen. Wir haben dann in Deutschland und der Schweiz die Leerstandsmelder untersucht, mit den Hauptbetreibern kooperiert und beschlossen, so etwas für Wien herauszubringen. Dieser erste Leerstandsmelder in Österreich hat Druck aufgebaut, die Leerstände zu bespielen.

JH In Wien gab es bis zum Juli 2014 die Pizzeria Anarchia. Kannst Du etwas über das Projekt erzählen?

GF Das Beispiel der Pizzeria Anarchia zeigt auf, wie Hausbesitzer und Immobilienspekulanten mit dem Thema Leerstand umgehen. Das Haus im zweiten Bezirk sollte saniert werden und die Altmieter ausziehen. Um den Widerstand zu brechen hat die Immobiliengesellschaft Punks ein befristetes, kostenloses Wohnrecht angeboten. Dieses taktische Vorgehen sollte die Altmieter vertreiben. Das Gegenteil ist aber dann eingetroffen, als die Punks sich mit den verbleibenden Mietern solidarisierten. Letztendlich sind die Mieter doch ausgezogen, nachdem sie drangsaliert wurden – der Strom abgestellt, das Dach abdeckt wurde und derlei weiterer Schikanen.
Die Punks allerdings hat das wenig gestört und sie haben sich geweigert, zu gehen. Sie haben ein Vereinslokal in der ehemaligen Pizzeria im Erdgeschoss betrieben, aus der die „Pizzeria Anarchia“ wurde. Der Immobilienbesitzer wollte das Haus daraufhin abreißen lassen und orderte 1700 Polizisten für die Räumung der Immobilie – der teuerste Polizeieinsatz in Österreich….

JH Wie wurde die Pizzeria Anarchia von den Nachbarn betrachtet? Gab es eine Solidarität gegenüber den Punks, die sozusagen den Spieß umgedreht haben?

GF Die Umgebung hat positiv reagiert, weil die Punks sichtbar gemacht haben, wie Immobilienspekulanten agieren. Die werden als die Verursacher der Krise, die gerade massiv zuschlägt, entlarvt.
Auf der anderen Seite gibt es so ein Projekt wie die Vinzirast. Die Vorbehalte und Vorurteile Obdachlosen gegenüber sind groß und solche Projekte bekommen im konservativen Österreich sofort Gegenwind durch die populistische Presse.

JH Das Vinzirast ist ein Wohnprojekt, in dem Obdachlose mit Studenten in WGs zusammen wohnen. Das sozial engagierte Projekt erhielt viel Aufmerksamkeit, hat sowohl Preise gewonnen auf der einen Seite, aber auch mit Ablehnung vor allem im Planungsstadium kämpfen müssen. Alexander Hagner, der das Vinzirast gebaut hat, erzählte mir, dass es sehr schwierig war, eine Akzeptanz der Bewohner in der direkten Umgebung für das Projekt zu gewinnen.
Wenn man den Leerstand nun füllen würde mit interessanten Projekten, die eine Vielschichtigkeit und Lebendigkeit der Stadt fördern können, werden diese wohl immer wieder auf Misstrauen bis unverhohlene Ablehnung stoßen. Wie siehst Du die Möglichkeiten, die Menschen zu sensibilisieren, dass auch sogenannte Randgruppen ein integrativer Bestandteil der Gesellschaft sind.

GF Wir bearbeiten das Feld ja seit sechs Jahren intensiv kulturpolitisch. Es gab in der Koalitionsvereinbarung ein Punkt, dass eine Agentur für Leerstand und Zwischennutzung gegründet werden sollte, was bis dato noch nicht geschehen ist. Mittlerweile ist das Thema jedoch auch beim Bürgermeister angekommen. Er hält es für möglich auch über eine Veränderung des Steuerrechts Lücken zu schließen und so Leerstand einzudämmen.

JH Selbst wenn die Politik begriffen hat, dass es solche Initiativen dringend braucht: Wie lässt sich der nötige Gesellschaftswandel auch in den Köpfen der Bevölkerung anstoßen?

GF Man kann die Bevölkerung nur rein wachsen lassen. Meine Erfahrung zeigt, dass Projekte nur dann erfolgreich sind, wenn sie von einer starken Figur aus dem Viertel getragen sind. Eigentlich müsste man sein wie ein Gärtner, der die Technik des Pfropfens, also des Baumveredelns beherrscht. Man muss starke Stämme finden und die ein bisschen veredeln, Fähigkeiten stärken, Wissen mitgeben, damit die dann in den Vierteln wirken können. Das Aktivieren von Menschen in den Vierteln, die über den Tellerrand hinaussehen wird das sein, was Stadtteile stark und lebenswert machen wird.

JH Projekte wie Tausche Wohnen für Bildung in Duisburg oder hier in München die Goldgrund Immobilien Aktionen, die über Humor gewinnend sind, oder eben die genannten anarchistische Aneignungen, dann sind das ja alles Beispiele von Kreativität und zugleich ganz unterschiedliche Ansätze, wie man mit der sozialen Ungerechtigkeit in den Städten umgehen kann….

GF Es gibt jedenfalls keine universalen Lösungen. Vielleicht gibt es so etwas wie ein Kochbuch. Man kann ein paar Strategien auswählen, aber tatsächlich ist jedes Viertel und jede Region anders zu sehen, weil man auf andere Akteure trifft.
Ein weiteres Beispiel, das ich noch nennen möchte, ist Ute Bock. Frau Bock Jahrgang 1942, hat als Hortbetreuerin gearbeitet und ein Kinderheim geleitet. Die ehemaligen Kinder sind im Kontakt mit ihr geblieben und haben sie auf die problematische Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht. Sie hat 2000 angefangen mit eigenem Geld Wohnungen anzumieten, und Flüchtlingen damit die Möglichkeit gegeben, eine Meldeadresse zu haben. Sie hat es geschafft, vor allem in der Kunst und Kulturszene viele Unterstützer zu finden. Projekte wie „Bock auf Bier“ sind entstanden, um ihr Projekt zu finanzieren. Lokale geben jeweils ein Euro pro verkauftem Bier an Ute Bock ab. „Bock auf Kultur“ hat nach dem gleichen Modell Teilerlöse an Ute Bock weitergegeben.

JH Die Vienna Biennale 2015 hat sich mit dem Titel „Ideas for Change“ auf die Fahnen geschrieben, in einer spartenübergreifenden, interdisziplinären Ausrichtung mit ihrer Verklammerung von Kunstanspruch und Kreativwirtschaft neue Perspektiven zu zentralen Themen unserer Zeit zu eröffnen und damit einen positiven Wandel unserer Gesellschaft zu fördern. Seid Ihr da beteiligt?

GF Ich bin nicht involviert, kenne aber die Hintergründe. Die Biennale gibt es seit 2008 und wurde damals von einem kleinen Team mit geringem Budget umgesetzt. Die Veranstalter haben auch immer wieder mit größeren Museen kooperiert und können nun 2015 mit einer Finanzierung einen Neustart beginnen. Die Frage ist, ob das gelingt, weil sie sich natürlich in einem Ausstellungsbereich verorten. Man ist dann eben wieder im Museum. Das kann funktionieren, oder auch nicht. Es gab vor zwei Jahren eine Ausstellung im Wienmuseum über Hausbesetzung, die sehr gut war, da die Kuratoren viel mit historischen Material gearbeitet haben und auch Akteure eingebunden haben, die nicht unbedingt Künstler waren. Damit wurde auch der politische Aspekt gut herausgearbeitet.

JH Wo wird heute der Gesellschaftswandel umgesetzt?

GF Meiner Meinung nach sind heute weder Museen noch Universitäten Orte, an denen kreativ mit der Gestaltung von Raum für den Gesellschaftswandel umgegangen wird, sondern Hacker Spaces und Coworking Spaces. Dort findet Innovation statt. Man muss nicht programmieren können, um ein Hacker zu sein. Die Idee ist vielmehr, ein System zu öffnen, seine Strukturen zu analysieren, zu verbessern … neu zu machen.

Nun haben wir in München das Glück, in Andres Lepik einen Direktor des Architekturmuseums zu haben, der sich seit Jahren mit sozial relevanter Architektur auseinandersetzt und seinen Blick darauf sowohl in Ausstellungen als auch an seinem Lehrstuhl für Architekturtheorie an der TU München vermittelt. Andres Lepik hat 2010 im Museum of Modern Art in New York die sehr einflussreiche Ausstellung „Small Scale Big Change“ kuratiert und eine Diskussion angestoßen, die die Stararchitektur ins Wanken gebracht hat. Eine thematische Weiterführung war dann seine Ausstellung „Think Global – Build Social“, die Lepik in Kooperation mit dem deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und dem Architekturzentrum Wien entworfen hat.

JH Zu der Ausstellung „ Think Global – Build Social“ ist damals ein Arch+ Sonderheft erschienen, welches die gezeigten Projekte in einen geschichtlichen Zusammenhang gebracht hat. Wie wichtig ist es, eine Kontinuität herzustellen und aufzuzeigen, dass es Vorbilder und frühere Projekte gibt, die heutigen Ansätze stützen können? Welche Projekte fallen Dir in dem Zusammenhang ein, die sich in Deutschland befinden?

Andreas Lepik Da fallen mir sofort die Prinzessinnengärten in Berlin ein: Eine leerstehende Fläche am Moritzplatz wurde von einer Gruppe besetzt, um mit der dortigen multikulturellen Nachbarschaft urbanes Grün und urban farming zu initiieren. Das hat zu einem interessanten Netzwerk geführt und bewirkt, dass diese Gruppe auch von anderen Städten eingeladen wird, um ähnliche Projekte zu beginnen.

JH Wenn man über urban tactics spricht, bewegen sich die Projekte in unterschiedlichen Rahmen. Von illegal zu geduldet bis legal oder eingeladen. Wie war der Status bei den Prinzessinnengärten?

AL Die Gründer hatten die Stadt Berlin gefragt, ob sie die Fläche einen Sommer lang bespielen dürfen. Die Stadt hat ihnen dann die Genehmigung für ein Jahr gegeben, um dort Gärten zu pflanzen unter der Bedingung, dass alle Pflanzen binnen 48 Stunden entfernt werden können.

JH Also nur eine temporäre Nutzung?

AL Die Stadt möchte das Gelände in Zukunft verkaufen können. An der gegenüberliegenden Ecke ist mit dem Modulor Haus, einem Großprojekt von Barkow Leibinger, ein enormer Immobiliendruck entstanden. Die Stadt wartet so lange, bis der Preis für den Verkauf die erhoffte Höhe erreicht. So lange ist die Zwischennutzung genehmigt. Mittlerweile sind die Prinzessinnengärten im fünften Jahr vor Ort und haben ein gutes soziales Netzwerk etabliert.

JH Was heißt Netzwerk? Geht das Projekt vom Gärtnern ins Bauliche, Städtebauliche?

AL Die Gruppe ist sehr staatstreu und hält sich an die Regeln, indem sie nichts bauen. Der Vorgabe, alles in 48 Stunden wieder entfernen zu können, tragen sie Rechung, indem sie Kästen bepflanzen, die zwei Personen bewegen können. Auch ein Cafe ist ein temporärer Bau ohne Fundament. Das Netzwerk entsteht dadurch, dass nachbarschaftliche Projekte einbezogen werden. So hat der Entwickler einer großen Wohnanlage angefragt, ob die Gruppe nicht deren Hof- und Grünflächen auch aktivieren könnte.

JH In München gibt es seit 40 Jahren Urbanes Wohnen e. V., eine Initiative, die sich anfänglich – ähnlich wie die Prinzessinnengärten – um die Aktivierung und Betreuung von Grünflächen in der Stadt kümmerte. Aus der Aktion „grüne Gartenhöfe“ entstand die Nachbarschaft Westermühlbach e.V. und viele weitere Nachbarschaftsinitiativen. Die Hofflohmärkte haben ihren Anfang im Urbanen Wohnen und die Wohnbautage sind seit neun Jahren ein erfolgreiches Projekt. Auch bei der Entwicklung des Kreativquartiers wird ihre Expertise zu Rate gezogen. Daneben gibt es neue Entwicklungen, wie die von Goldgrund Immobilien, die mit frischer Energie und ungewöhnlichen Ideen Stadt gestalten. Wie kann man das Wissen und die Erfahrung der früheren Generation von Akteuren mit den heutigen Ansätzen verknüpfen?

AL Ja, das ist eine wichtige Frage: Wie kriegt man die alt eingesessenen Organisationen mit jungen Initiativen zusammen? Die Problematik besteht wohl darin, dass die Jungen Veränderung bewirken wollen, während die ältere Generation schon gefestigt in ihren Strukturen sitzt und keine Änderung wünscht. Aber Stadt ist immer Prozess und Stadt ist immer auch Wandel und Veränderung. Ich finde es wichtig, dass solche frischen Ansätze immer wieder Stadt ganz neu denken, Lücken mit kreativen Ideen besetzt werden und Aufmerksamkeit erzeugt wird. Ziel muss es doch sein, den Dialog mit den eingesessenen Organisationen zu fördern und gemeinsam Veränderungen voranzutragen.

JH Bei vielen Aktionen in der Vergangenheit wie beispielsweise der Häuserbesetzung ging es den Akteuren selbst darum, kostenfrei Wohnraum zu bekommen. Die Projekte, die wir heute beschreiben, unterscheiden sich davon, da das Engagement der Akteure zu Gunsten von Dritten geschieht. Da scheint ja doch ein Gesellschaftswandel im Gang zu sein, bei dem es um allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeit geht und nicht um den Einzelnen.

AL Unser Gesellschaftsbild hat sich seit den sechziger Jahren stark geändert. Damals waren Hausbesetzungen ein politisches Signal, ein Protest, der eine Haltung gegen das Establishment, gegen den Grundbesitz und das Kapital verkörpert hat.
Heute geschehen Hausbesetzungen nicht mehr durch die linke Szene, sondern im Grunde aus der Not heraus da der Wohnungsmarkt so eng geworden ist, dass nur noch die Aneignung von Leerstand eine mögliche Lösung bietet. Das ist kein politischer Akt, sondern eher ein Akt der Verzweiflung. Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander, was zu einer wachsenden Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt führt. Dazu kommt noch das Problem der Migration. Während es in den sechziger Jahren normal war, dass zigtausend Gastarbeiter nach Deutschland gezogen sind, gibt es heute lauten Widerstand, wenn zehntausend Syrier Asyl brauchen. Das führt auch zu Solidarisierung mit den Flüchtlingen, die einen Raum in unserer Gesellschaft brauchen.
Tatsächlich kann man erkennen, dass generell in der Gesellschaft ein größeres Verständnis dafür wächst, dass wir hier nicht in der „splendid isolation“ als Wirtschaftswundermacht weiterleben können ohne die Verantwortung auch zu übernehmen.

JH Ein Bewusstmachen dieser Prozesse ist sehr wichtig und als Kurator hast Du ja bereits mit den Ausstellungen „Small Scale – Big Change“ und „Think Global – Build Social“ eine größere Sichtbarkeit und Anerkennung dieser Architektur bewirkt. Meine Frage wäre, wie Du als Museumsdirektor die Personen erreichst, die zu überzeugen sind?

AL Architekturausstellungen für Architekten sind sinnlos. Man sollte Architekturausstellungen machen für diejenigen, die sich nicht als Profis betrachten, sondern über eine Ausstellung einen Zugang gewinnen können. In diesem Sinne ist die Ausstellung vom MoMa gewandert über Frankfurt nach Wien und Kairo, und wird dann vom Goetheinstitut durch die ganze Welt geschickt und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. An jedem der Veranstaltungsorte versuchen wir lokale Partner dazuzugewinnen, die dann vergleichbare Initiativen vor Ort wieder miteinbringen. Die Ausstellung wird somit immer wieder angereichert. Eine Docking-Station für Aktionen vor Ort.

JH Wird es auch eine entsprechende Online-Plattform geben, die Projekte und Erfahrungen zugänglich macht, Referenzen sammelt und in einem Forum zur Verfügung stellt?

AL Erstmal muss die Ausstellung physisch stattfinden und touren können. Wie man dann in der nächsten Stufe mit dem Wissen und den Projekten umgehen könnte, und ob es da eine Plattform geben wird, haben wir noch nicht entschieden.

JH Die Finanzierung von Projekten ist ja oftmals ein steiniger Weg. Wenn Du als Thema soziales Engagement wählst, fällt es da leichter, Förderungen zu bekommen?

AL Für Ausstellungen zu diesem Thema ist es auch nicht einfacher, Gelder zu akquirieren. Tatsächlich ist eine monografische Ausstellung über einen Architekten leichter zu finanzieren, da große Firmen aus Netzwerkgründen Interesse haben, als Sponsoren aufzutreten. Soziale Themen werden eher über die Kulturstiftung des Bundes oder andere Stiftungen gefördert, die einen Mehrwert darin sehen und damit eine kulturelle Verantwortung übernehmen.

JH Du bist ja auch Professor an der Münchner TU, am Lehrstuhl für Architekturtheorie. Da ist es Dir sicher auch ein Anliegen, Deinen Studenten alternative Architekturprojekte nahe zu bringen, um den Beruf des Architekten immer wieder neu zu denken. Mir fällt in diesem Zusammenhang Recetas Urbanas ein, die in Sevilla Leerflächen ungefragt bebauen und sich über eine kreativ auslegte Gesetzeslücke in einem quasi-legalen Rahmen bewegen.

AL In München ist der Druck so groß, dass die Lage nicht mehr mit Privatinitiativen zu lösen ist. Wenn wir hier pro Jahr 5-10.000 Zuwanderer haben, lässt sich das bei der derzeitigen Situation – ohne die Perspektive von ausreichend neuem Wohnraum – nicht lösen. Da muss es eine politische Lösung geben. Der einzelne Architekt kann mit ein paar Wohnungsbesetzungen diese Masse nicht bewältigen. Das ist vielleicht wichtig als Ereignis, um eine Diskussion loszutreten, aber der politische Prozess, der dann einsetzen muss, kann nicht von den Architekten gelöst werden.
Das bedeutet für München, dass hohe Dichte erzeugt werden muss. Oftmals wird hier immer noch Vorstadt in der Stadt gemacht und kein ausreichendes Angebot geschaffen. Das Problem ist, dass die politischen Weichenstellungen noch nicht funktionieren.

JH Aber letztendlich ist es ja auch da wieder Aufgabe des Architekten, entgegen der traditionellen Lösung der Nachverdichtung neue kreative Wege zu gehen. Wird das thematisiert in Deinen Vorlesungen?

AL Das kommt jetzt immer stärker. Das Thema Bauen im Bestand wird bei uns an der Fakultät von Andreas Hild vertreten. Wie kann man Bestand umwidmen, umbauen und umnutzen? Wie lassen sich ehemalige Bürohäuser in Wohnhäuser verwandeln?
Obwohl ich keinen Entwurfslehrstuhl habe versuche ich natürlich auch, meinen Studenten klar zu machen, dass die klassischen Aufgaben, für die Architekten hier ausgebildet werden, nicht die sein werden, die später gefragt sind und anstehen. Und, dass sie sich ganz klar die Frage stellen müssen, wie das Berufsbild des Architekten in fünf bis zehn Jahren aussieht.

JH Du hast letzte Woche Alfredo Brillembourg von Urban Think Tank zu einem Gastvortrag eingeladen und zeigst damit alternative Vorgehensweisen und inspirierende Beispiele. Ein Hochhaus mit 42 Stockwerken, das ohne Aufzug bewohnt wird, wie der Torre David, oder das Wiener Wohnprojekt Vinzirast, entsprechen beide nicht den traditionellen Architekturprojekten …

AL Es gibt aber eben auch in der Vergangenheit Beispiele, wie in den zwanziger Jahren in Frankfurt das neue Wohnen oder in den dreißiger Jahren Martin Wagner in Berlin mit seiner Idee des wachsenden Hauses. Der SIAM Kongress in Frankfurt hat sich mit dem Thema Bauen für das Existenzminimum beschäftigt. Dass Architekten sich schon immer auch diesen Fragen zugewendet haben, ist nichts Neues. In den letzten Jahren ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, dass es eine Verantwortlichkeit des Architekten für die unteren 10 bis 20 % im Einkommensspektrum gibt.

JH … die ja auch hier in München in erster Linie unter dem Wohnungsmarkt leiden.

AL Das ist tatsächlich ein Drama, u.a. für die Studenten hier. Am Ende ist München dann eine Stadt, in der sich nur noch die Kinder Besserverdienender einen Studienplatz leisten können. Wir brauchen aber an der Uni wie in der Stadtgesellschaft insgesamt eine gute Mischung, die aus der Vielfalt der Kulturen, Schichten und Generationen entsteht und nicht von Uniformität der Einkommensverhältnisse und Bildungsverhältnissen geprägt ist.

Interview: Julia Hinderink

WANN: Di. 27. Januar 2015, 20:00 Uhr
WO: Cafe Luitpold, Briennerstrasse 11
WEB: cafe-luitpold.de